Auf dem Weg nach Europa. Deutungen, Visionen, Wirklichkeiten

Auf dem Weg nach Europa. Deutungen, Visionen, Wirklichkeiten

Organisatoren
Institut für Europäische Geschichte, Mainz, in Kooperation mit dem Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.11.2008 - 15.11.2008
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Von
Johannes Wischmeyer, Institut für Europäische Geschichte, Mainz

Die bunte Vielfalt an Referenzmethoden und thematischen Ansätzen im Modefach ‚Europäische Geschichte‘ mag dem pluralen, heterogenen Erscheinungsbild des aktuellen Europa entsprechen. Allerdings ist bislang nicht hinreichend geklärt, wie ‚Europa‘ als historiographischer Untersuchungsgegenstand zu bestimmen ist (und wie nicht); die oft ambitionierte Theorie vergleichender und transnationaler Geschichtsschreibung steht allenfalls am Beginn einer Unterfütterung durch empirische Studien.

Von der skizzierten Problemstellung ging ein am Mainzer Institut für Europäische Geschichte anlässlich des 65. Geburtstags von Heinz Duchhardt veranstaltetes, von der Fritz Thyssen Stiftung finanziertes interdisziplinäres Kolloquium aus, das der Reflexion von Themen, Methoden und Fragestellungen einer integrativen, transnationalen Europahistoriographie gewidmet war. Drei besonders relevante Themenfelder hatten die Veranstalter, Irene Dingel und Matthias Schnettger, identifiziert: Zunächst ging es um ‚Europavorstellungen‘ und -visionen im Verlauf der Neuzeit, um ihre Träger und die Bedeutungen, die dem Begriff Europa jeweils beigelegt wurden. Daran schloss die Frage an, ob und inwieweit die Europavorstellungen zeitgenössische Realitäten reflektierten und welche Muster von ‚Inklusion und Exklusion‘ sie nach außen wie nach innen produzierten. Schließlich sollte das komplexe Wechselspiel von ‚Einheit und Vielfalt‘ beleuchtet werden, das mit dem Wort ‚Europa‘ – gleichzeitig Proprium und Superzeichen – immer schon gegeben ist.

Konzepte europabezogener Politik werden in der populären und anlassbezogenen deutschen Bildpublizistik der Frühen Neuzeit zwar kaum explizit thematisiert. WOLFGANG HARMS konnte im einleitenden Vortrag dennoch zwei Flugblätter aus dem 17. Jahrhundert präsentieren, die Europa dem Blick einer interessierten Öffentlichkeit als Handlungsraum vorstellen. Europa erscheint etwa als Tanzsaal, in dem die europäischen Potentaten ein Kriegsballett aufführen. Die in den beigegebenen Versen artikulierte Kritik an der Kriegspolitik und der Appell, gemeinsam den Frieden zu finden, transzendieren deutlich jeden nationalen Bezugsrahmen. Die personifizierte Europa wird im zweiten Beispiel als Opfer des großen Krieges dargestellt. Der Begleittext schildert Europa als Mächteraum, für den ein Friedenswerk gefunden werden muss; dennoch interessiert nicht das Schicksal Europas als solches, sondern das seiner Teile. In Bezug auf die Europathematik konnte das Medium Flugblatt seine Stärken – Meinungsbildung und Erregungssteuerung – im 17. Jahrhundert offenbar noch nicht voll ausspielen.

KARL-HEINZ LINGENS stellte dar, wie sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts als neue Disziplin vor allem innerhalb der deutschsprachigen Rechtswissenschaft das sog. praktische oder Europäische Völkerrecht entwickelte. Es stellte das seit Grotius und Pufendorf postulierte naturrechtliche Völkergesetz infrage und orientierte sich stattdessen an der Praxis und den Konventionen des zwischenstaatlichen Verkehrs der europäischen Souveräne und Nationen. Der Vater dieses positiven Völkerrechts, Johann Jakob Moser, sah eine Tendenz hin auf einen „einigen großen Staatskörper“ Europa. Spätere Rechtsdenker öffneten die Disziplin für zivilisatorisch fortgeschrittene außereuropäische Mächte und bildeten Mosers Europakonzept zu dem eines Staatensystems fort. Themen wie Intervention, ein Handlungsrecht der Großmächte auch jenseits geltender Verträge oder auch die Frage nach einer Zugehörigkeit der Hohen Pforte zur europäischen Völkerrechtsgemeinschaft blieben in der Wissenschaftsdiskussion lange strittig.

Die polnische Situation der Zwischenkriegszeit bildete den Hintergrund für einen Beitrag über osteuropäische Europavisionen. Im Zentrum des Vortrags von MAŁGORZATA MORAWIEC stand eine anonyme Propagandaschrift aus dem Jahr 1930 zum Thema ‚Paneuropa und Polen‘. Literarisch stark von antiker und romantischer Motivik bestimmt, hebt das Pamphlet inhaltlich vor allem die ökonomischen und politischen Errungenschaften hervor, die dem internationalen Austausch zu verdanken seien. Der Autor war sich bewusst, welch schwachen Rückhalt die elitäre polnische Paneuropabewegung in der Bevölkerung genoss. Doch auch sein antikommunistischer Appell vermochte in der realen politischen Situation nichts gegen eingewurzelte Ängste vor Pangermanismus und deutsch-französischer Aussöhnung auszurichten.

MICHAEL STOLLEIS gab eine wissenschaftshistorische Einführung zur Entwicklung des Europarechts in der bundesdeutschen Jurisprudenz seit 1945. Obgleich Juristen an der Schaffung der ersten europäischen Institutionen beteiligt waren, hatte nach Gründung der Bundesrepublik für Staats- und Völkerrechtler zunächst eine Fülle aktueller Probleme Vorrang. Voraussetzung für eine gangbare und individuell auszugestaltende Europarechtswissenschaft war eine rechtstheoretische Innovation: Anstatt das Gemeinschaftsrecht wie in der Anfangszeit als Gegenstand internationaler Abkommen zu betrachten und jede Einzelentscheidung neu in den Rahmen nationaler Gesetzgebung zu übersetzen, erwies es sich als Königsweg, die europäische Integration über Art. 24 GG a. F. (dauerhafte Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen) laufen zu lassen. Fachpolitisch war es v. a. Hans Peter Ipsen, der mit seiner Interpretation der Europäischen Gemeinschaft als Zweckverband dem Europarecht eine selbständige dogmatische Fassung und damit eine stabile Grundlage verlieh. Im Öffentlichen Recht sind die Diskussionen über die Reichweite der Aufgabe nationaler Staatlichkeit allerdings bis heute nicht verhallt.

Einen Wandel vom sakralen zum säkularen Erbfeindbegriff im Verlauf der europäischen Frühen Neuzeit diagnostizierte MARTIN WREDE. Das Phänomen besitzt eine europäische Dimension, denn ein echter Erbfeind musste ein eschatologisch qualifizierter Feind der Christenheit sein oder aber eine generationenlang in Gegnerschaft engagierte, den eigenen Normen entgegengesetzt strukturierte Macht. Religiös bzw. konfessionell grundiert war der deutsche Blick auf Osmanen gleichwie auf Franzosen, was zeitweise zum Wechselspiel zwischen den beiden Feindbildern führte: Topoi der Türkenfeindschaft wurden auf das Frankreich Ludwigs XIV. übertragen. In den 1680er- und 1690er-Jahren erreichte die Frankophobie nahezu den Rang einer Ersatzreligion. Erst die Erfahrung der Besiegbarkeit des westlichen Gegners im österreichischen Erbfolgekrieg führte zur (zeitweisen) Umwertung des Erbfeindbegriffs ins Nationale und Säkulare. Im 18. Jh. wurden auch die Türkenkriege zu gewöhnlichen Kabinettskriegen; das „eschatologische Zeitalter“ hatte mit Prinz Eugen sein Ende gefunden.

IVAN PARVEV stellte ein Periodisierungsmodell zu den osmanisch-europäischen Beziehungen vor. Er unterschied vier Hauptphasen: nach einer formativen Phase (1300-1453) standen die Konfrontation (bis 1688), Transformation (bis 1798) und zuletzt die Integration in das Konzert der europäischen Mächte (bis 1856) im Mittelpunkt. Leitfrage war, inwieweit die Beziehungen jeweils den Charakter eines ‚Clash of Civilisations‘ trugen. In der formativen Periode existierte kein solcher Konflikt; erst allmählich geriet das Mächtesystem unter den Druck des osmanischen Expansionswillens. In der zweiten Periode, in der politische und dynastische Bündnisse sowie auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Vasallitätsverhältnisse fehlten, muss von einem Clash gesprochen werden – nicht nur in der diplomatischen Praxis ignorierten die Osmanen europäische Konventionen. In der Transformationsperiode kamen keine Heiligen Allianzen gegen die Türken mehr zustande. Gleichzeitig öffneten sich die Osmanen ‚realpolitischen‘ Konzepten. Zu formellen Bündnissen kam es aber erst angesichts der napoleonischen Herausforderung.

Die alte Frage nach der Zugehörigkeit Russlands zu Europa verlagerte CHRISTINE ROLL auf ein Feld jenseits der jahrhundertelangen Abgrenzungsrhetorik. Sie schlug vor, Karten und Kunstgegenstände als Quellen gemeinsamer Traditionen und wechselseitig aufgenommener Kulturimpulse zu lesen. Die kulturelle Wiederentdeckung Russlands seit dem 15. Jahrhundert profitierte von den Leistungen russischer Kartographie; die großen geographischen Werke des Frühbarock wurden im Gegenzug bald ins Russische übersetzt. Das russische Imperium galt seit Peter I. als zweiteiliges Gebilde mit Anteilen am europäischen wie am asiatischen Kontinent. In der sakralen Kunst konnte sich zwar noch im 17. Jahrhundert die Verachtung westlicher Religion spiegeln, dennoch suchten zur selben Zeit geistliche Institutionen erneut Anschluss an klassische westliche Kulturtraditionen. Schlagwörter wie ‚Europäisierung Russlands‘ treffen also die historische Entwicklung nicht; Russland hatte vielmehr an den Konjunkturen und Veränderungen Europas zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert auf spezifische Weise teil.

Die folgenden beiden Beiträge nahmen den Adel als europäisches Phänomen in den Blick: RONALD G. ASCH analysierte die je spezifische Wirkung europäischer Impulse auf die regionalen Adelsgruppen der britischen Inseln. Unter ihnen waren die englischen Adligen Ende des 16. Jahrhunderts am wenigsten kosmopolitisch ausgerichtet. Erst mit den Religionskriegen, an denen sie sich auf niederländischer Seite prominent beteiligten, kehrten sie auf den Kontinent zurück. Bei Ausbruch des Englischen Bürgerkriegs sah sich der Adel als Teil einer transnationalen protestantischen militärischen Elite, die im eigenen Land keinen katholischen König dulden konnte. Viele Schotten, die im Dreißigjährigen Krieges in dänischen oder schwedischen Heeren gestanden hatten, schlossen sich später den Covenanters an – ein gesamteuropäisches Protestantismusbewusstsein präformierte hier das Nationalbewusstsein. Irische Katholiken engagierten sich oft in französischen und spanischen Diensten. Den in der Heimat Zurückgebliebenen eröffneten sich Identitätsoptionen zwischen regionalem Patriotismus, Diensttreue gegenüber der englischen Krone und europäischem Katholizismus.

GUDRUN GERSMANN gab einen Werkstattbericht aus dem Kontext eines Forschungsprojekts, das die kulturelle Grenzgängerfunktion des Adels zwischen Erft und Rhein im Zeitraum 1780–1830 vor allem in westeuropäischer Perspektive untersucht. Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck ist ein Musterbeispiel eines nach europäischen Maßstäben erzogenen Adligen: Von Jugend an sah er Paris als Europas Kulturhauptstadt, sein dortiger Salon war ein Ort des deutsch-französischen Kulturtransfers. Als führender Kakteenforscher konnte Salm-Reifferscheidt auf paneuropäische Kontakte und Netzwerke in derselben Weise zurückgreifen wie als Politiker. Prototyp des ‚girouette‘, profitierte der Hochadlige in politischer und ökonomischer Hinsicht von allen Regimewechseln seiner Zeit, ob als Mitglied der Noblesse d’Empire oder später innerhalb eines Freimaurernetzwerks, das als effizientes Kommunikations- und Machtinstrument napoleonfreundlicher Eliten aus Adel und Bürgertum das Ende des Empire überlebte und langfristig eine wichtige Rolle im Prozess regionaler Modernisierung spielte.

Im Zusammenhang mit dem neubewilligten Mainzer Graduiertenkolleg zum Thema ‚Die christlichen Kirchen vor der Herausforderung Europa‘ stand der Beitrag von IRENE DINGEL. Nach 1945 wurde der Abendland- bzw. Europagedanke von protestantischen und katholischen Meinungsführern sehr unterschiedlich aufgegriffen: Pius XII. entwickelte in pointierten öffentlichen Äußerungen ein Abendlandideal, das religiös-sittliche wie politische Einheit garantieren sollte. Mittelalterliche Ketzerverfolgung wurde um des Einheitspostulats willen nachträglich legitimiert, hinzu trat theologische Kritik an der Reformation als Ursache von Religionsspaltung und Säkularisierung. Katholische Abendlandnostalgie, etwa bei Theodor Steinbüchel, arbeitete mit kulturräumlichen Sakralisierungsmodellen. Protestantische Theologen wie Walter von Loewenich oder Erwin Mühlhaupt rückten den das Mittelalter idealisierenden Einheitsbildern mit historischer Kritik zuleibe. Eugen Gerstenmaier griff von evangelischer Seite aus den Begriff des ‚christlichen Abendlands‘ auf - für ihn das Gegenbild zum totalitären Staat und vorpolitische Matrix für sittliche Wertentscheidungen. Dabei appellierte er an das europapolitische Engagement der großen Konfessionen im Geist der Ökumene.

Einen Überblick über die europabezogene Druckpublizistik der Frühen Neuzeit gab JOHANNES ARNDT. Zwischen Mittelengland und Mittelitalien existierte ein Kommunikationsraum mit Korrespondenten in allen relevanten Orten. Eine zentrale Rolle spielte die ‚Mediengroßmacht‘ Niederlande, deren Verleger bedeutenden Anteil an der Entwicklung der Drucktechnik hatten und ihre relativ große politische Freiheit effizient nutzten: In Frankreich etwa erodierte die Nachrichtenversorgung vermittels offiziöser Zeitschriften seit 1750, da von Exulanten redigierte halblegale Zeitschriften aus den Niederlanden auf den Markt drängten. Die englische Regierung unter Wilhelm von Oranien reagierte umsichtiger: der relativ liberale Zeitschriftenmarkt trug problemlos eine zentrale offiziöse Zeitschrift. Langfristig konnte sich kein europäischer Potentat (außer dem Papst) dem europäischen Mediensystem entziehen; wer es versuchte, machte sich angreifbar gegenüber kritischer ausländischer Publizistik.

Die Aufgabenteilung zwischen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentren funktionierte in der europäischen Frühen Neuzeit im allgemeinen reibungslos. Wollte allerdings eine Stadt wie Rom – Ursprungsort der katholischen Kirche, Sitz der Päpste und Hauptstadt des antiken Römischen Weltreichs – den Anspruch des caput mundi verteidigen, so war erhöhter Begründungsaufwand nötig. ELISABETH OY-MARRA zeigte, wie die Päpste im Laufe des 16. Jahrhunderts die Macht der römischen Kirche in aufwendigen Neubauten inszenierten, medienwirksame Reliquienauffindungen arrangierten und die junge christliche Archäologie förderten, um Kontinuität zum Urchristentum herzustellen, und antike Romlegenden revitalisierten. Bildliche Europadarstellungen wurden in der katholischen Welt auf die italienische Halbinsel zentriert, gleichzeitig versuchten andere Nationen – vor allem Frankreich –, sich in Rom architektonisch einen Namen zu machen. Langfristig überwog allerdings bei vielen europäischen Herrschern der Wunsch, die eigene Hauptstadt zur Weltmetropole auszubauen.

Auf der Suche nach einem europäischen Erinnerungsort – einem zugleich auf spezifische Identifikationsbedürfnisse partikularer Erinnerungskulturen zugeschnittenen allgemeinen Referenzpunkt – wurde JOACHIM BERGER beim frühneuzeitlichen Herkulesmythos fündig: Viele europäische Dynastien schufen zwischen dem 15. und dem 18. Jh. genealogische Bezüge zu den diversen regionalen Herkulestraditionen. Die topische Verwendung des Mythos enthielt einen Appell zur Einigung. Motive der militia Christi und Gottesknechtschaft konnten sich in die Darstellung mischen. Im Rahmen fürstlicher Repräsentationskultur erhielt der Herkulesmythos einen festen Platz als Erinnerungstopos, mit negativen Folgen für die Mythomotorik: Angesichts beinahe beliebiger dynastischer Aneignung verbanden sich kaum mehr spezifische Inhalte mit dem Mythos; das herrscherkritische Motiv der Hybris des Heroen ging weitgehend verloren.

In seinem Abendvortrag fragte MATTHIAS SCHNETTGER nach dem Stellenwert Europas für die Arbeit der in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts geborenen bundesdeutschen Historiker. Der europäische Einigungsprozess war für sie eine zentrale, mitunter auch biographienprägende Erfahrung. Nachdem die Studienzeit der Alterskohorte im Zeichen der politischen Grundlagenkrise Europas gestanden hatte, begleiteten wichtige Zäsuren wie die EU-Erweiterung von 1973 und die Neue Ostpolitik die Zeit ihrer akademischen Qualifikation. Als der Eiserne Vorhang fiel, konnten die meisten ‚Vierziger‘ den historischen Wandel von der sicheren Warte einer Professur aus kommentieren. Mediävisten waren Vorreiter, was die Ausweitung der Forschung auf europaübergreifende Phänomene anging. Neuzeithistoriker bezogen das europäische Ausland dagegen nur verzögert und weniger stark in die Forschung ein. Selbst per se europaaffine Fächer wie Diplomatiegeschichte oder Osteuropahistorie erbrachten zunächst kaum Innovationen. Gemeineuropäische Perspektiven wurden lange Zeit allenfalls über die Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Frankreich oder Großbritannien erarbeitet. Nur wenige der ‚Vierziger‘ wagten sich bislang mit programmatischen Thesen zu Europa hervor, die auch öffentlich, außerhalb disziplinärer Kontexte, diskussionsfähig sind.

Die von Irene Dingel und Matthias Schnettger moderierte Schlussdiskussion hob den Facettenreichtum des Europabegriffs hervor. Als Konstanten europäischer Geschichte wurden – sicher auch dem Tagungsaufbau geschuldet – die Zirkulation von Bild- und Kartenmaterial, die Konstruktion europäischer Systeme sowie die Bedeutsamkeit von Konfliktsituationen identifiziert. Eine entscheidende Frage – so die Diskutanten – bleibt, inwiefern die Europahistoriographie die Rekonstruktion eines jeweils zeitgenössischen Europabewusstseins mit dem gleichzeitigen Blick auf transkulturelle Verflechtungen und gemeineuropäische Strukturelemente in angemessener Weise verbinden kann. Gleichzeitig wurde vor zu starker Verbindlichkeit spezifischer europahistorischer Heuristiken gewarnt und auf die Leerstellen in der Quellenüberlieferung hingewiesen, die es in vielen Fällen zu einer besonderen Herausforderung machen, europäische Geschichten zu erzählen.

Konferenzübersicht:

Irene Dingel / Matthias Schnettger (Mainz)
Begrüßung und Einführung

1. Sektion: Europavorstellungen

Wolfgang Harms (München)
Europa in der deutschen Bildpublizistik der Frühen Neuzeit

Karl-Heinz Lingens (Frankfurt am Main)
Europa in der Lehre des "praktischen Völkerrechts"

Małgorzata Morawiec (Mainz)
Europavisionen in Osteuropa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Michael Stolleis (Frankfurt am Main)
Europa als Vorstellung und Arbeitsgebiet der deutschen Staatsrechtslehre nach 1945

2. Sektion: Inklusion und Exklusion

Martin Wrede (Gießen)
Europäische Feindbilder

Ivan Parvev (Sofia)
Das Osmanische Reich und Europa

Christine Roll (Aachen)
Ansichten von Räumen, Grenzen und Kulturen. Russland und Europa in frühneuzeitlichen Karten und Bildern

Ronald G. Asch (Freiburg)
Der Adel der britischen Inseln im europäischen Kontext zwischen insularer Isolation und Kosmopolitismus ca. 1570-1640

Gudrun Gersmann (Paris)
Joseph zu Salm-Reitterscheidt-Dyck (1773-1861) – ein adeliger Europäer

Irene Dingel (Mainz)
Der Abendlandgedanke im konfessionellen Spannungsfeld. Katholische und evangelische Verlautbarungen (um 1950/60)

Matthias Schnettger (Mainz): Öffentlicher Vortrag
Auf dem Weg nach Europa? Deutsche Historiker der 1940er Jahrgänge

3. Sektion: Einheit und Vielfalt

Johannes Arndt (Münster)
Die europäische Medienlandschaft im Barockzeitalter

Elisabeth Oy-Marra (Mainz)
Rom als Magnet im Europa des 17. Jahrhunderts. Gründungsmythen und künstlerische Aneignungsstrategien im Prozess der Zentrenbildung

Joachim Berger (Mainz)
Herkules – Held zwischen Tugend und Hybris. Ein europäischer Erinnerungsort der frühen Neuzeit?

Schlussdiskussion